Fairerweise muss man dazu sagen, dass es sowohl innerhalb als auch außerhalb der Religionen mindestens zwei Arten gibt, mit den Grundtexten umzugehen. Eine Herangehensweise ist, den Text so viel wie möglich als wörtliche Anweisung für das eigene Leben zu lesen. Die andere ist, die Aussage immer auf ihren Kontext und auch auf ihre Form und Erzählabsicht zu überprüfen.
Dies würde ich übrigens auch bei zwei anderen Stellen in der Bibel empfehlen, in der es um Barfüßigkeit geht. Die eine ist die Geschichte vom verlorenen Sohn, die als Gleichnis für das Himmelreich präsentiert wird. Hier bekommt der sündige Sohn, nachdem er sein vorausgezahltes Erbe verprasst hat, reumütig, mittellos und offenbar barfüßig zu seinem Vater zurück, der sich über die Rückkehr so freut, dass er nicht ärgerlich wird, sondern ihm nicht nur neue Gewänder bringen lässt und ein Festmahl ausrichtet, sondern ihm auch Schuhe bringen lässt. Hier sind Schuhe also tatsächlich positiv besetzt - wobei man immer auch daran denken muss, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelt, die sogar als Geschichte präsentiert wird.
Interessant ist auch noch eine andere Passage, diesmal aus dem Alten Testament, in der Barfüßigkeit eine Rolle spielt, nämlich bei 5. Mose 25, Vers 5-10. Da wird der Witwe eines Mannes dessen Bruder sie nicht ehelichen und ihr keinen Nachkommen schenken will, bei hartnäckiger Weigerung erlaubt, ihm öffentlich ins Gesicht zu speien und ihn dadurch bloßzustellen, dass sie ihm einen Schuh auszieht. An diese Demütigung soll dann auch noch dadurch zusätzlich dauerhaft erinnert werden, dass man sein Haus künftig „Haus des Barfüßers“ nennen soll. Wirkt heute absurd, ist aber wohl nur ansatzweise zu verstehen, wenn man die Geschichte im Kontext einer patriarchal organisierten Gesellschaft mit einer starken Stellung einzelner Sippen und einer fehlenden staatlichen Altersversorgung betrachtet (Witwen ohne männliche Nachkommen hatten da einen sehr schlechten Stand).
Was der Sicht auf Barfüßigkeit in beiden Zitaten und in denen von Dorothea mitgeteilten gemeinsam ist, dass sie mit Demut und teilweise Armut verbunden scheint: Beim unwilligen Schwager und beim schuhlosen verlorenen Sohn handelt es sich um eine unfreiwillige Demütigung, während sie bei Lukas und Matthäus als ein freiwilliger Akt der Demut verstanden werden kann.
Neben der Demut durch freiwillige Armut spielt bei den Stellen bei Lukas und Matthäus aber wohl auch der Aspekt des sich vollständig abhängig Machens von den zu Missionierenden eine Rolle - psychologisch ein vorab gegebener Vertrauensbeweis an das Gegenüber. In diesem Zusammenhang könnte man dann auch das Gebot lesen, niemanden auf dem Weg zu begrüßen (das hieße dann, sich ganz auf die Kommunikation mit den zu Missionierenden zu fokussieren).
Am Interessantesten finde ich die Stelle bei Lukas 22,35, weil man hier herauslesen könnte, dass das Fehlen von Schuhen rein praktisch gesehen nicht als Mangel betrachtet wird. Aber auch hier wäre zu beachten, dass es sich um einen antiken Text handelt, bei dem man von einer bewussten erzählerischen Komposition und einer extremen Verdichtung des Mitgeteilten ausgehen muss.