Barfuß im Winter trainieren

Liebe @Sien,
weil Du relativ detailliert Deine konkreten Erfahrungen mit Blicken und ungebetenen Angeboten von Gratisschuhen beschrieben hast, fielen mir dazu ein paar Anmerkungen und Tipps ein, wie Du vielleicht besser damit klarkommen könntest.

Es ist jetzt doch ein bisschen länger geworden als gedacht. Wenn Du magst und wenn Du Zeit hast, kannst Du Dir das in Ruhe durchlesen.

Ich denke, es ist auch für @coar und andere interessant, allerdings könnten individuelle Anpassungen erforderlich sein.

Der Nachteil von Blicken ist, dass es nur nonverbale Kommunikation ist. Du weißt also nicht, ob es positiv ist („Echt krass, dass die sich das traut. Die hat voll das Selbstvertrauen und ihr Körper hält viel aus.“ :star_struck:) oder negativ ist („Oh nein, 1 Verrückte.“ :scream:). Ich kann sehr gut verstehen, dass Du Dich unwohl fühlst, weil Du nicht weißt, wie die Blicke zu deuten sind und nicht ausschließen kannst, dass sie möglicherweise etwas Negatives bedeuten. Außerdem ist es generell für Menschen unangenehm, wenn andere Menschen auf Körperteile starren, auch wenn es positiv gemeint sein sollte.

Die Autorin eines von @tiptoe geposteten Zeitungsartikels, die testweise durch barfuß durch Berlin lief, bekommt wohl auch solche Blicke zu spüren:

Zieht mal die Schuhe aus, und ihr werdet sie sehen, die Blicke! Menschen ohne Schuhe sind verwirrt. Menschen ohne Schuhe wissen nicht, was sie tun. Sollte man jemanden rufen, der der armen Frau hilft? Womöglich ist es der Ekel vor dem Berliner Boden, der aus ihnen spricht.

Vielleicht hilft es zu wissen, dass Du nicht die einzige mit diesem Problem bist und Leidensgenoss*innen hast.

Ich selbst löse das Problem schlicht damit, in dem ich Blicke komplett ignoriere und mich nur auf das verlasse, was mir jemand verbal kommuniziert.

Dass es in der U-Bahn besonders unangenehm ist, kann ich sehr gut nachvollziehen. Da bist Du während der Fahrt wie in einem „Gefängnis“ mit den Leuten dicht gedrängt eingepfercht und kannst nicht einfach flüchten.

Ein Vorteil von U-Bahnen ist, dass diese in dichtem Takt und dichtem Haltestellenabstand fahren. Notfalls könntest Du an der nächsten Haltestelle aussteigen, kurz „verschnaufen“ und dann mit der nächsten U-Bahn weiterfahren. Das könnte Dein Problem vielleicht ein bisschen abschwächen.

Mit Leuten in der Großstadt habe ich so meine eigenen Erfahrungen. Beispielsweise - allerdings hatte ich da Schuhe an - begegnete ich einer Person, die mir unbedingt erklären musste, wie ich die Rolltreppe in der U-Bahnstation zu benutzen habe und gab mir ungefragte „Ratschläge“, wo es „gefährliche Stellen“ gibt, über die ich zu springen hätte. Als ob ich nicht selbst am besten weiß, wie Rolltreppen zu benutzen sind. Allerdings war besagte Person stark alkoholisiert und sie wirkte bildungsfern. Da ich mir bewusst war, dass ich die Person in meinem ganzen Leben wahrscheinlich nie wieder sehen werde, konnte ich den Vorfall abhaken. Ich kann zumindest bestätigen, dass man gerade in der Großstadt im ÖPNV die unterschiedlichsten Leute aus den unterschiedlichsten Bildungsgraden und Gesellschaftsschichten trifft, die sich auf die unterschiedlichsten Arten verhalten.

Das widerlegt eine viel zu positive Vorstellung von Großstadtmenschen, die ich in meiner Kindheit naiverweise hatte: Ich nahm an, das wären alles weltoffene tolerante Kosmopolit*innen die sich alle gegenseitig tolerieren, beispielsweise LGBT-Menschen und Menschen mit ausgefallenen Stylings, Frisuren und Body Modifications. Die gibt es sicher auch, aber leider nicht nur.

Die Vorstellung, dass es auf dem Land besser ist, klingt nachvollziehbar. Man könnte meinen, das sind alles naturverbundene Menschen und wegen der Naturverbundenheit würden sie die Motivation für Barfüßigkeit besser nachvollziehen können. Und man könnte denken, es kennt dort jede*r jede*n, weswegen man sich darauf verlassen könnte, dass man als Person korrekt eingeschätzt wird.

Allerdings hatte ich erst gestern, in (Nord-)Bayern auf dem Land lebend folgendes Erlebnis gehabt: Ich ging abends barfuß eine schwachbefahrene Straße entlang eines Windparks entlang. Nachdem ich den Spaziergang beendete und in mein Auto stieg, hielt plötzlich ein Polizeiauto neben mir an. Die Polizei wurde von einer Mitteilerin informiert, die mich barfuß entlanglaufen sah und sich Sorgen machte. Sie nahm mich vielleicht als „hilflose Person“ wahr, aber ich konnte die Polizei davon überzeugen, dass mit mir alles in Ordnung sei. Ich nahm die Polizei als sehr freundlich wahr. (Ein Hinweis für die älteren Forumsteilnehmer*innen: Ich machte also ganz andere Erfahrungen als Michael aus Zofingen :wink:).

Diese Erfahrung zeigt, dass man barfuß nicht nur in der Großstadt, sondern auch in Bayern auf dem Land als hilfsbedürftig wahrgenommen werden kann.

Zurück zur Großstadt:

Ich interpretiere Deine Aussagen zu Großstadtmenschen so, dass diese Dich wegen der Anonymität nicht persönlich kennen und teilweise wegen mangelnder Bildung sich der Vorteile des Barfußlaufens nicht bewusst sind. Diese sehen Dich dann barfuß und anstatt dass sie sich korrekterweise herleiten, dass Du beispielsweise verantwortungsbewusst auf Deine Gesundheit achtest, reimen sie sich irgendeinen Mist zusammen, etwa, dass Du verrückt bist, was natürlich sehr respektlos Dir gegenüber ist.

Besonders respektlos ist es, wenn andere Leute Dir Gratisschuhe anbieten, auch wenn es vermutlich gut gemeint ist. Aber gut gemeint heißt halt leider nicht gut gemacht. Diese Leute werten Dich fahrlässigerweise ab, weil sie Dir indirekt wegen Deiner barfüßigen Erscheinung meiner Meinung nach völlig zu Unrecht unterstellen, dass Du irgendein hilfloses schutzbedürftiges Opfer wärst ohne Geld für Schuhe.

Dabei ist aber in Wahrheit das krasse Gegenteil der Fall. Im Forum trittst Du sehr selbstbewusst auf. Du kannst Dir sehr wohl Schuhe leisten und besitzt auch ein paar Paare (Pun intended :stuck_out_tongue:). Aber gerade weil Du eben nicht schutzbedürftig bist, erlaubst Du Dir den Luxus, manchmal auf Schuhe zu verzichten, eben weil Deine Füße so strapazierfähig sind, dass sie eben auch ohne Schuhe mit Kälte und unangenehmen Untergründen gut klarkommen, während andere im Gegensatz zu Dir den Schutz der Schuhe benötigen.

Es ist wie bei Minimalist*innen, die in der privilegierten Lage sind, sich (fast) jeden Gegenstand kaufen zu können, aber bewusst darauf verzichten, weil sie ohne die jeweiligen Gegenstände besser klarkommen.

Die Entscheidung barfuß zu laufen ist eine bewusst von Dir privat gefällte Entscheidung, weil Du persönlich Dich wohler damit fühlst und Du verantwortungsbewusst auf Deine Gesundheit achtest, etwa um Rückenschmerzen und Hallux Valgus abzuschwächen. Du machst das nicht für andere, sondern für Dich selbst, damit Du Dich wohler fühlst. Andere hat das nichts anzugehen.

Du lieferst also meiner Meinung nach sehr viele Gründe, voller Respekt zu Dir aufzuschauen! Ich nehme an, die Leute in Deinem Umfeld, die Dich gut kennen, wie Dein Partner, Dein Sohn, Deine Freunde sehen das vermutlich häufig erst Recht so und drücken das auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen aus.

Aber auch andere Leute sehen das so. Im Forum hast Du an verschiedenen Stellen von positiven Erfahrungen berichtet:

Ich nehme an, Du hast sicher noch mehr solch positive Reaktionen bekommen. Es tut sicher gut und ist sehr ermutigend, diese zu bekommen.

Ich habe mir darüber Gedanken gemacht, wie Du diese positiven Reaktionen vielleicht nutzen könntest, um mit den negativen Reaktionen besser klarzukommen. Jeder Mensch ist individuell verschieden und ich weiß natürlich nicht, ob es Dir helfen könnte, ob es vom Zeitaufwand möglich ist und ob Du es vielleicht sogar schon kennst und ausprobiert hast.

Der Vorschlag, den ich mir ausgedacht habe, wäre, dass Du vielleicht eine Art „Tagebuch“ führen könntest, in welches Du jedes positives Erlebnis niederschreibst. Idealerweise schreibst Du noch ein paar Details dazu oder gestaltest es schön, je nach Vorliebe und Zeitaufwand.

Anhand der obigen Zitate könnte es dann beispielsweise so aussehen:

01.05.20xx
Das Wetter war schön. Ich bin die XY-Straße entlang gelaufen. Beim Restaurant XY begegneten mir zwei Damen mit Rollator. In bewunderndem Tonfall bemerkten sie meine Barfüßigkeit. Ich vernahm Wortfetzen “…ohh barfuß… wow…” “…ja, sehr gesund…”. Es fühlte sich sehr schön an.
02.05.20xx
Heute ich ein Seminar zum Thema XY im Vorlesungssaal XY. Ich bemerkte Kommilitonin XY, wie sie auch barfuß war. Damit hätte ich nicht gerechnet, aber es war ein sehr schönes Gefühl, dass jemand anderes es mir gleich tat.
03.05.20xx
In der Mensa XY in der XY-Straße aß ich Spargelcremesuppe. Ich unterhielt mich mit Kommilitonin XY. Sie gab an, dass sie echt Respekt habe. Ich habe mich über ihre Anerkennung sehr gefreut.

In das Tagebuch schreibst Du allerdings nur die positiven Erlebnisse rein. Wenn Du es schreiben möchtest, würde ich Dir empfehlen, jetzt schon im Sommer anzufangen, weil es Dir leichter fällt barfuß zu laufen und Du so die positiven Erlebnisse sammeln kannst.

Weil Du angehende Lehrerin bist, weißt Du sicher viel besser als ich, wie sich von Dir selbst niedergeschriebene Inhalte auf Dein Gehirn auswirken.

Nun könntest Du dieses Tagebuch immer wieder durchlesen, um die positiven Erlebnisse erneut zu „durchleben“, so dass sie wieder präsent in Deinem Kopf sind und Du positive Gefühle erfährst.

So startest Du entspannter in den Tag und hast weniger Angst davor, ob ein negatives Erlebnis kommt. Falls eines kommst, nimmst Du es auf Grund der positiven Gefühle entspannter entgegen. Und nach einem negativen Erlebnis kannst Du durch erneutes Durchlesen die negativen Gefühle durch positive kompensieren.

Ich war natürlich, als Du diese negativen Erlebnisse erlebt hast, nicht dabei, daher weiß ich logischerweise nicht, wie Du darauf reagiert hast.

Ich weiß, dass viele Menschen - und da können die noch so selbstbewusst sein - einfach erschrocken sind und gar nichts sagen. Das ist eine völlig normale und nachvollziehbare Reaktion. Das ist einfach eine Schockstarre, ein Überlebenstrieb aus der Steinzeit. Diese Reaktion sagt jedenfalls nichts über das Selbstbewusstsein aus.

Ich habe mir überlegt, wie Du Dich besser aus der Dir völlig zu Unrecht zugewiesenen Opferrolle herausemanzipieren könntest. Ich weiß allerdings nicht, ob Du es so ähnlich schon mal probiert hast und es schon kennst:

  1. Eine Person bietet dir Gratisschuhe an.

  2. Zunächst bleibst Du ruhig und atmest tief durch. Das hat mehrere Funktionen: Du kannst einen möglichen Schock besser verarbeiten, deine Gefühle in Ruhe sortieren und dann Dir erneut kurz ein positives Erlebnis aus dem Tagebuch ins Bewusstsein rufen, damit Du Dich im Augenblick der Situation besser fühlst. Außerdem strahlst Du für Dein Gegenüber Ruhe und Selbstvertrauen aus, quasi ein Teil der Emanzipation.

  3. Du antwortest freundlich aber bestimmt mit entspanntem Tonfall:

    Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen, aber ich besitze bereits mehrere Paar Schuhe und ich habe mich bewusst dazu entschieden, barfuß zu laufen, weil ich sehr gut damit zurechtkomme und mich so wohler fühle.

    oder alternativ kürzer

    Ist ja nett von Ihnen, dass Sie mir Schuhe anbieten, aber ich besitze welche, brauche sie aber gerade nicht.

    Das Gegenüber nimmt Dich als freundlich wahr und jemand der freundlich ist, kann nicht verrückt sein. Du zeigst dem Gegenüber, dass Du die Hilfe ablehnst, wodurch Du selbstbewusst wirkst und es ist ein weiterer Teil der Emanzipation. Verstärkt wird das dadurch, in Du gegen Ende des Satzes implizierst, dass Du den Schutz der Schuhe gar nicht benötigst.

Idealerweise wird das so vom Gegenüber, wenn es vernünftig ist, akzeptiert. Falls nicht, sagt das mehr über das Gegenüber aus (das sich somit selbst demütigt), als über Dich selbst.

Du kennst vermutlich den Barfuß-Leitfaden von Wolfgang. Diesen könntest ausgedruckt mitzuführen, um es - falls möglich - dem Gegenüber auszuhändigen. So dürfte es leichter zu überzeugen sein, dass es viele Menschen gibt, die freiwillig barfuß laufen und dass es gesund ist, ohne dass Du groß herumdiskutieren musst, warum Du das jetzt machst.

Die folgenden Vorschläge sind eher präventiver Natur:

Du könntest den Fußschmuck tragen. Bisher hattest Du ihn ja noch nicht im Winter getragen. Mit ihm drückst Du aus, dass Du aus vollkommen eigenständiger Entscheidung ohne Notsituation heraus barfuß läufst. Das könnte Gratisschuhangebote abschwächen. Allerdings weiß ich nicht, in wie weit er resistent gegen Schnee und Matsch im Winter ist.

An anderer Stelle hast Du geschrieben:

Es ist also für Außenstehende bereits sichtbar, dass Du bereits in Besitz von Schuhen bist. Es ergibt also keinen Sinn, welche anzubieten. Falls es mit Flip-Flops nicht funktionieren sollte (weil es halt keine festen Schuhe sind), könntest Du versuchen, die geschlossenen Barfußschuhe in irgendeiner Form sichtbar zu tragen (in der Hand oder du findest eine Lösung, es auch am Rucksack zu befestigen). Vielleicht hilft das besser.

Abschließend noch Kompliment an Dich, dass Du Dich dazu überwunden hast, zumindest teilweise im Winter barfuß zu sein! Offensichtlich kannst Du bereits jetzt einige der Abwertungen gut an dir abperlen lassen. Dich schrittweise zu steigern ist ein sinnvoller Weg. Du hast bereits jetzt an Selbstbewusstsein und Stärke dazugewonnen und ich bin mir sicher, dass Du das weiter ausbauen kannst. Ich wünsche Dir viel Erfolg dabei!

LG
stromkabelsalat