Im wissenschaftlichen Sinne verspricht die Bibel nach meinem Verständnis nichts. Die anonymen Autoren lassen in der Regel die Frage offen, ob es sich bei ihren Texten um Literatur oder um wissenschaftliche Erörterungen handelt. Es gibt auch im überlieferten Textkorpus keine editorische Notiz, nach welchen Kriterien die Textsammlung, bei der es sich bei der Bibel ja offensichtlich handelt, zusammengestellt wurde. Es gibt einzelne Hinweise in einzelnen Texten selbst. Und was die erste Schöpfungsgeschichte betrifft, so wird sie in meiner revidierten Lutherübersetzung zumindest klar als „Geschichte“ benannt ("Dies ist die Geschichte … etc)
Man muss ansonsten auch noch bedenken, dass wir es mit Texten zu tun haben, die in einer Kultur entstanden, bei der die mündliche Kommunikation dominierte. Man war gewohnt, Informationen, die von Generation zu Generation weitergeben werden sollten, zu verdichten. Man kann das mal mit den nur mündlich weitergegebenen eigenen Familiengeschichten vergleichen: Da gibt es in der Regel riesige Lücken und die Kriterien wie und was weitergeben wird folgen oft literarischen Prinzipien, d.h. charakteristische verdichtete Anekdoten überleben oft länger als exakte Daten und Fakten.
Das muss nicht unbedingt so sein und in jedem Fall ist das Problem bei der modernen Wissenschaft das Gleiche. Wir nehmen zwar an, dass sich irgendwann ein Individuum herausgebildet hat, das wir aufgrund von bestimmten Merkmalen als „ersten Menschen“ definieren könnten. (Lustigerweise neigen wir auch heute noch dazu, den frühesten Menschen Namen zu geben und sie vereinfachend als Stammväter- bzw. Mütter zu bezeichnen, man denke an „Lucy“). Wir wissen aber auch, dass die Artbildung ein Prozess ist, bei der die reproduktive Isolation (also der Zeitpunkt, an dem man nur Nachkommen mit Angehörigen der eigenen Spezies hervorbringen kann) nicht sofort eintritt, sondern nach unzähligen Generationen. Wenn wir den ersten Schöpfungsbericht der Bibel als eine literarisch gefasste, aber auf einer Mischung von tatsächlichen damaligen Beobachtungen und wissenschaftliche Spekulationen beruhende Hypothese betrachten, dann ist der Graben zur Evolutionstheorie gar nicht so groß: Betrachte wir die poetisch beschriebene Fähigkeit, mit „Gott“ wie von Ebenbild zu Ebenbild zu kommunizieren als eine signifikante, uns von den Tieren unterschiedene Form von reflektierendem Bewusstsein und sehen wir die Aussage, dass alle Frauen ab Eva ihre Kinder „mit Schmerzen“ gebären müssen, als einen Hinweis auf das überproportional angewachsene Hirn- und bzw. Schädelvolumen und betrachten wir den Übergang vom Früchtesammeln im Garten Eden hin zum mühseligen „Ackern“ nach der Vertreibung aus dem Paradies als einen Hinweis auf den Übergang von einer Existenz als reine Jäger und Sammler hin zur Entwicklung zum Ackerbau, dann wären die Eckpunkte der Artwerdung des Menschen gemessen an dem objektiv möglichen Wissen der Zeit erstaunlich gut benannt.
Wenn dann im nächsten Teil der Geschichte von Kain (ausschließlich Ackerbauer) und Abel (ausschließlich Jäger und Sammler) als Kinder von Eva die Rede ist, dann kann das wiederum als poetisch verdichtete Beschreibung des nächsten wichtigen Entwicklungsschritts der Menschheit und der damit verbundenen Probleme beschrieben werden. Ob sich die Nachkommen von „Eva“ oder „Lucy“ noch mit irgendwelchen Neandertalern gekreuzt haben, ist nicht so wichtig: Entscheidend ist die Stammlinie, also die Linie derjenigen Individuen, bei denen sich die „menschlichen“ Eigenschaften bei der Vererbung als dominant durchgesetzt haben.