Warum Schuhe so normal sind (und es vermutlich bleiben)

Ich habe die letzten Tage etwas dazu gelesen. Und es ist wirklich interessant, wie Schuhe einfaches Hilfsmittel, Schutz, Statussymbol, Machtinstrument oder Ausdruck von Zugehörigkeit zu einer Gruppe waren und sind.

Der moderne Mensch ist mutmaßlich an einem unbekannten Ort in Afrika zuerst aufgetaucht und dort gab/gibt es große Gebiete, wo Kleidung und Schuhe nicht notwendig sind. Solange der Mensch dort gelebt hat, waren Schuhe und Kleidung nicht nötig oder hilfreich.

Der Mensch hat dann aber angefangen Mensch zu sein und hat neue Gebiete gefunden, Berge und Meere überquert, für die er nicht geeignet war. Sicher sind viele Menschen an Hitze, Kälte, Hunger und Durst gestorben, bevor sie angefangen haben sich Schutzkleidung anzufertigen und Lebensmittel/Wasser zu transportieren.

Schuhe sind im Kampf von Vorteil, weil man auch auf schwierigem Untergrund schnell laufen kann, ohne sich zu verletzen. Auf dem Weg über Berge sind Schuhe eine große Erleichterung. Durch Wüsten, über Eis oder Vulkangestein.

Die ersten „Schuhe“ waren im Grunde Minimal-Schuhe. Die Sohle war erst einmal weiches Leder, Fell oder aus Pflanzenfasern. Ein wirksamer Schutz vor Verletzung, Kälte und Hitze. Schon in der Antike waren Schuhe Handwerk und sehr zweckorientiert. Die Agypter erlaubten nur bestimmten Menschen Schuhe mit bestimmten Merkmalen. Die Form der Schuhspitzen war ein Hinweis auf den sozialen Status.

Schnell waren Schuhe also auch ein Zeichen für Überlegenheit, Status, Macht und Reichtum.

Das hat sich im Grunde immer so gehalten, wo die Zivilisation hingelangt ist. Egal ob Römer, Osmanen, Europäer usw. Wobei in großen Städten auch Hygiene ein Problem war. Fäkalien waren praktisch überall und selbst kleine Verletzungen an den Füßen konnten schnell eine Blutvergiftung nach sich ziehen.

Schuhe sind sicher nicht immer nötig, aber für die allermeisten Menschen in den vielen Ländern wenigstens einen großen Teil der Zeit. Wenn man Schuhe anhat, muss man nicht genau überlegen, wo man hintreten kann. Man ist in der Regel schneller. Die Gefahr sich zu schneiden oder zu stoßen ist minimal. Heißer Boden oder Kälte ist in geeigneten Schuhen gar kein Problem.

Was genau schöne Schuhe sind, hat sich immer wieder stark verändert. Aber wer die jeweils aktuelle Mode besitzt, zeigt seinen Wohlstand. Wer z. B. einen maßgeschneiderten Anzug trägt und dazu passende Schuhe, wird oft als besonders seriös wahrgenommen. Politiker, Geschäftsleute …
Wer die neuesten NIKE oder Adidas trägt ist in, oder welche Marke in der entsprechenden Gruppe eben „oben“ ist. Oft ist der ursprüngliche Zweck bei Schuhen egal. Anders lassen sich unbequeme Schuhe, hohe Absätze und extrem dicke Sohlen nicht erklären, die den Fuß eher beschädigen oder leicht zu Verletzungen führen.

Wer keine Schuhe trägt, gilt in den meisten Teilen der Erde als arm. Wer würde schon freiwillig auf dieses nützliche Werkzeug verzichten? Deswegen sind Leute, die nicht nur im Schwimmbad auf Schuhe verzichten, eine Ausnahme und werden es vermutlich auch bleiben.

Ja, man sollte möglichst oft barfuß gehen. Es ist gut für den ganzen Bewegungsapparat. Es ermöglicht ein ganz besonderes Fühlen, schafft ein Stück Freiheit. Aber es ist nicht so einfach wie einen Weg mit Schuhen gehen. Man kann regelrecht deswegen stranden. Es macht definitiv verwundbarer. Es ist deswegen an manchen Orten unmöglich oder faktisch sehr unvernünftig (Baustelle, Fabrik, Einsatzkräfte, Arktis, …) Die Gesellschaft tut sich damit schwer und es führt zu Ablehnung bei manchen. Man muss es bewusst tun. Es ist kein hoher Status damit verbunden.

Es nur manchmal als Hobby zu machen, ist allerdings auch wenig hilfreich. Dann werden die Füße schwach bleiben und sehr empfindlich. So kann man die Vorteile nur auf sehr begrenztem Gebiet nutzen. Diese Erfahrungen sind in der Regel keine Werbung für den Lebensstil. Eher schreckt es ab.

Barfußschuhe erscheinen deshalb manchen als guter Kompromiss. Einerseits ein schon recht ordentlicher Schutz und trotzdem näher an dem Boden auf dem man steht. Der Gang ist schon natürlicher. Hier kann man auch ein bisschen „Gesellschaft“ mitspielen, wenn man teure und noble Marken trägt und hat weniger mit Ablehnung zu tun.

Letztlich ist barfuß aber nur barfuß, wenn man es tatsächlich tut. Wenn Schuhe nur dann zum Einsatz kommen, wenn es wirklich erforderlich ist oder sie ein konkretes Risiko wirklich deutlich senken. Und diese Einstellung ist radikal. Dazu sind die meisten nicht bereit. Die wenigsten haben Lust sich nach einem Tag in der Stadt gewohnheitsmäßig Glassplitter aus dem Fuß zu prokeln. Viele habe nicht einmal ein normales Verhältnis zu Füßen und ekeln sich davor.

Also würde ich annehmen, dass viele es nicht wollen. Und es sind nur wenige, die es durchziehen.
Auch wenn die konsequenten Leute es eher nicht so sagen würden: Es ist auch ein bisschen mühevoll und es erfordert die Bereitschaft unangenehme Erfahrungen zu sammeln. Deswegen ist es am Ende etwas für wenige. Selbst dann, wenn es letztlich natürlich und gut ist und funktioniert.

Ich kann zur Zeit noch nicht absehen, wie es bei mir wird. Aber ich wünsche mir wirklich, dass ich das ausdehnen kann. Hab ja gerade erst begonnen.

PS: nur um Missverständnissen auszuräumen: ich bin absolut für barfuß. Ich bedauere, das ich zur Zeit noch nicht genug Übung habe und dass es für mich draußen jetzt zu kalt ist um zu üben.

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Danke @Sven_Schumacher für die detaillierten und substantiierten Überlegungen. Was mir etwas fehlt, ist der Ländervergleich.

Wir wissen aus Foren und teilweise auch aus eigener Erfahrung, dass in gewissen angelsächsisch geprägten Landern (v.a. Neuseeland, Südafrika, etwas weniger Australien, das Vereinigte Königreich selbst) barfuss zu leben durchaus gesellschaftlich akzeptiert ist. Das geht gesellschaftlich bis weit hinauf, meine neuseeländischen und südafrikanischen Freude gehören zweifellos der Oberschicht an und laufen oft barfuss, auch in der Öffentlichkeit. Ihre Kinder sind fast ausschliesslich barfuss - ganz im Gegensatz zu Kindern in armen Townships, die oft irgendwelche billige Schlappen tragen. Auch in Brasilien wird viel barfuss gelaufen und insbesondere auch Fussball gespielt - nicht nur in Favelas, sondern auch in sehr wohlhabenden Verhältnissen.

Worauf will ich raus: Es gibt Länder in denen barfuss als normal angesehen wird, ausdrücklich auch (im Falle Südafrikas insbesondere) in der Oberschicht.

Was hat diese Länder so geprägt? Auch in der DACH Region nehme ich ACH als barfussfreundlicher wahr als D. Weshalb?

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Das geht aus Wikipedia und anderen Quellen nicht hervor. Ich selbst habe wenig Erfahrungen bisher.

In Deutschland haben wir aber immer noch den Nachhall von preußischen Werten und Disziplin im Schulsystem. Das hat indirekt vielleicht auch einen Einfluss auf den Umgang mit Leuten, die gesellschaftliche Normen in Frage stellen. Ist jedefalls eine Vermutung für mich. Etwas anderes machen, als „man es eigentlich macht“ ist ja überall schwierig.

Viele der von dir genannten Länder stellen die persönliche Freiheit, solange es niemand anderem weh tut, höher auf und z.b. in England gilt ein Spleen (so sagte mir unser britischer Besuch jetzt) als völlig okay. Ob barfuß Menschen und z.b. Schwule damit glücklich sind, wenn man ihre Besonderheit als Spleen sieht? Aber immerhin ist es in England schon länger mehr akzeptiert als hier.

Wir deutschen sind verklemmt.

Und dann gibt es eben Kulturen, die Schuhen explizit Aufmerksamkeit widmen. Füße haben teils kultische Bedeutung (islamisch geprägt z. B. ) Und religiöse Normen. Die sind einer Diskussion nicht offen. Bei keiner Abweichung.

Erinnert mich an den Spruch der 68er:

In Deutschland ist ein Aufstand nicht möglich. Dazu müsste man den Rasen betreten

Da ist übrigens Wien mit GB verwandt. Nirgendwo in DACH sieht man so viele wohlgelittene „Originale“

Da stimme ich dir zu! Aber das Prädikat „normal“ ist in meinen Augen auch völlig falsch besetzt. :wink:

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Ich denke, das Argument etwas anders zu machen als die Mehrheit sei immer schwierig ist auf diese Länder sicher anwendbar: Wenn alle (oder zumindest viele) barfuss laufen, fällt barfuss nicht auf.

Das Argument militärischer Disziplin funktioniert zumindest in Südafrika gerade anders rum. Dort wird barfuss laufen zumindest bei Kindern und Jugendlichen als Massnahme gegen Verweichlichung angesehen. So insistieren viele Eltern und Lehrkräfte, dass insbesondere „Landloop“ (Geländelauf) barfuss absolviert wird.

In Neuseeland ist es wohl eher persönliche Freiheit.

Und in allen genannten Ländern, ausser vielleicht UK, auch das Klima. Ganzjährig deutlich über dem Gefrierpunkt hilft sicher.

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Hallo Sven,

Danke erst einmal für Deinen ausführlichen und anregenden Beitrag!

Schuhe in ihrer Doppelfunktion als Gebrauchsgegenstände und Statussymbol zu betrachten, finde ich entscheidend.

Ansonsten habe ich aber bei Versuchen, Welt(kultur)geschichte in einem kurzen Abriss zu erfassen, auch ein paar Fragezeichen.

Dass der Mensch bzw. seine Verwandten sich erst beim Verlassen von Afrika Kleidung zugelegt hätte, ist wissenschaftlich gesehen durchaus zweifelhaft. Die Forschungspositionen zum Auftreten von Kleidung reichen jedenfalls von vor 75.000 Jahren bis hin zu vor 650.000 Jahren. Und abgesehen davon, dass es in Afrika stellenweise auch nachts kalt werden kann, dient Kleidung bzw. früher Fell nicht nur dem Schutz vor Kälte.

Ein anderer Punkt betrifft Fäkalien in der Stadt. Das ist in modernen Großstädten des 20. und 21. Jahrhunderts mit Sicherheit ein Problem, aber ob das in früheren Zeiten auch in dem Maße der Fall war, ist fraglich. Aus mittelalterlichen Städten gibt es beispielsweise Dokumente, die zeigen, dass dort darauf geachtet wurde, dass das Vieh, das in der Stadt gehalten wurde, nur auf speziell ausgewiesenen Wegen aus der Stadt hinaus und in sie hinein getrieben wurde. Außerdem gab es auch mehr gesellschaftliche Kontrolle. Man denke an heutige Dörfer, die heute von der Bevölkerungszahl oft schon mittelalterlichen Städten gleichkommen. Hundekot auf den Gehwegen findet man da extrem selten …

Generell ist es auch wichtig, die Bevölkerungszahl in den Städten in Relation zur Landbevölkerung zu sehen. Noch 1950 betrug der Anteil der Landbevölkerung weltweit im Gegensatz zur Stadtbevölkerung um die 70 %, 2015 waren es nur noch 46 %. Noch stärker war die Schere zwischen reicher Oberschicht, die sich durchgängig Schuhe leisten konnte und den niederen Ständen. Es gibt zwar genügend Beweise dafür, dass auch auf dem Land und in niederen Ständen Schuhe getragen wurden, aber wie „normal“ das weltweit gesehen war, ist eine andere Frage. Mein Eindruck ist, dass es hier ein riesiges Kaleidoskop an Gepflogenheiten gab, wo sich viele Faktoren überlappen. Generell ist wohl Barfüßigkeit in wärmeren Gegenden üblicher als in kälteren und im maritimen Bereich üblicher als im Gebirge, aber verallgemeinern kann man das nicht: In Schottland beispielsweise war Barfüßigkeit wohl noch im 19. Jahrhundert auch im Binnenland üblich (es fiel jedenfalls zentraleuropäischen Reisenden auf) und die Spreewaldfischer waren wohl auch noch im 19. Jahrhundert bei Tanzveranstaltungen barfuß: Zumindest bei diesen Beispielen ist es sehr schwer zu sagen, ob es sich um spezifische Arbeitskleidung oder Festtracht handelt und das gilt natürlich auch umgekehrt für Schuhe.

Last not least würde ich nicht davon ausgehen, dass die Zukunft eine lineare Fortschreibung der Gegenwart ist. Wenn sich etwas an der Einstellung zu Schuhen ändert, dann kann sich das durchaus exponentiell entwickeln. Ich erwarte da zwar keinen Durchbruch in der nächsten Zeit, aber wenn ich zurück denke, dann hätte ich mir in meiner Jungend weder die plötzliche Wiedervereinigung noch die Einführung der Ehe für alle noch einen 20 prozentigen Anteil an Tätowierten in der deutschen Bevölkerung träumen lassen. Habituelle Barfüßigkeit einer signifikanten Minderheit als akzeptierte Alternative zu habituellem Schuhetragen halte ich in den nächsten 20, 30 Jahren zumindest für möglich.

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Es gibt auch in Deutschland so Sachen wie „Stoppelfeld Lauf“ oder barfuß Pfad… Die Krankenkassen werben für barfuß.

Aber der deutsche kann außerhalb der markierten Flächen nicht barfuß laufen…

Und es ist ja auch anstrengend, wenn man dafür erst Mal 50km fahren muss, zur ausgewiesenen barfuß Stelle.

Seufz

Ich habe auch erst sehen müssen, dass es halt einfach so möglich ist und habe vorher nie wirklich auch nur darüber nachgedacht.

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Verstehe ich das richtig, dass Du glaubst, die Städte wären in der Zeit vor dem 20. Jh. sauberer gewesen als heute? Ich habe eher das absolute Gegenteil im Kopf. Vor allem im Mittelalter, als die Leute ihren Dreck (Nachttopf etc.) direkt aus dem Fenster auf die Straße gekippt haben, was ja u.a. der Nährboden für die ein oder andere Seuche war. In dieser Zeit wurden sogar extra Unterziehschuhe erfunden (Trippen), hölzerne Plateauschuhe, um die kostbaren ledernen „Schouch“ vor dem Straßenkot zu schützen. Barfuß zu gehen war in dieser Zeit wohl hauptsächlich auf dem Lande üblich oder in der Stadt von Leuten, die wirklich sehr arm waren und nicht anders konnten, als füßlings durch den Baaz zu stapfen…

Haha, geiles Zitat! Da ist was dran. Vorschriftsmäßiges Barfußlaufen ist nur an den dafür vorgesehenen Stellen zulässig. Zuwiderhandlungen werden mit Stöckelschuhen mit bis zu 10cm Absatz geahndet… :rofl:

Das gilt aber nicht nur fürs Barfußlaufen, sondern auch für andere Bereiche. Um bei Deinem Beispiel mit den 50km bis zum Barfußpark zu bleiben, gibt es sehr viele Leute, die anstatt 10km an der freien Luft zu joggen, mit dem Auto zum Fitnessstudio fahren, um sich dort eine Stunde auf das Laufband zu stellen und die miefige Luft und die Aerosole zahlreicher anderer schwitzender Supersportler einzuatmen - und dafür auch noch zu bezahlen! Gratulation! :roll_eyes:

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Der Unterschied zwischen dem Stoppelfeldlauf und den südafrikanischen Landloops ist primär deren Häufigkeit. Den Stoppelfeldlauf gibt es m.W. in einem einzigen Dorf. Landloops werden dagegen an sämtlichen Schulen und darüber hinaus in regionalen und nationalen Meisterschaften veranstaltet.

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Meine Position zu Barfußpfaden, wenn sie „nur“ eben ein Sonderevent sind, zu dem man hunderte Kilometern anreist, um danach wieder wie selbstverständlich dauerbeschuht zu leben, kennst Du ja sicher, und drum hat mich auch der Titel „Hobby barfuß“ vom alten Forum ein bißchen gestört.

:slight_smile: erinnert mich an den berühmten, Lenin zugeschriebenen Spruch mit der Revolution, zu der der brave Deutsche eine Bahnsteigkarte löst… (nein, ich will jetzt nicht über 5000 Traktoren vs. 5 Klimakleber*innen diskutieren)

Einen Punkt zu Deinem Essay möchte ich noch hinzufügen: bestimmte Schuhe sind ganz klar oft Dresscode, um bestimmte Gruppenzugehörigkeit zu zeigen, nicht nur als Statussymbol oder der fast schon uniformartige Dresscode der Manager. Ich denk an die Doc Martens bei verschiedensten Leuten, ggf. noch mit „Geheimsprachen“ durch Schnürsenkelfarbe(n) oder ganz bestimmte andere Schuhmarken. Und in manchen Zusammenhängen ist tatsächlich barfuß dann auch wieder 'ne Art Dresscode. (Alt)hippies, egal ob esoterisch oder öko oder schon völkisch durchgeknallte wie die Anastasia-Leute, aber auch - anderes Extrem in der Richtung - u.U. leicht punkige Menschen. Da sind sowohl Schuhmode als auch bewußt bf klare Dresscodes.

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Ich kenne das aus Bad Urach bzw. Markgröningen, wo der Schäferlauf bis vor einigen Jahren noch barfuß auf einem Stoppelfeld ausgetragen wurde. Inzwischen laufen die Mädels auf Kunstrasen und die meisten mit Sportschuhen. Aber meines Wissens war die mehrfache Siegerin der letzten Jahre immer barfuß… Schuhe machen also nicht schneller (qed).

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Verstehe ich das richtig, dass Du glaubst, die Städte wären in der Zeit vor dem 20. Jh. sauberer gewesen als heute? Ich habe eher das absolute Gegenteil im Kopf.

Wie sauber oder schmutzig die Städte genau waren, weiß ich natürlich nicht, aber die Vorstellung von den völlig verdreckten Städten im Mittelalter und insbesondere vom Nachttopfleeren auf die Straße scheint tatsächlich ein Mythos zu sein. Mein Gewährsmann in dieser Sache ist André vom Kanal „Geschichtsfenster“ (ein echter Besserwisser aus Leidenschaft, aber entsprechend unterhaltsam). Hier ein kurzes Statement von ihm zum Nachttopf:

Und hier ein längeres Video zum „dreckigen Mittelalter“:

Zu Trippen äußert er sich u.a. in diesem Video (ab 59’40’'):

Zu guter Letzt gibt es auch noch ein Video zu Kleidung um 1475, wo er ab 41’56’’ ausführlich über Schuhe und nochmals zu Trippen Stellung nimmt:

Interessant finde ich daran zum einen, dass seine Beschreibung von den gebräuchlichsten Schuhen tatsächlich sehr viel mehr an „Barfußschuhe“ erinnert als an heute übliche Normalschuhe (dünne Sohle und manchmal auch nur eine Art Strumpf mit dünner Sohle drunter).

Ebenfalls interessant finde ich seine Aussage zu Kleidung als Statussymbol, wo er nämlich deutlich macht, dass bei Kleidung, die einen hohen sozialen Status vermittelt, häufig die symbolische Botschaft mitschwingt „seht her, ich muss nicht körperlich arbeiten“. Hier sehe ich für die Zukunft eine Möglichkeit der gesellschaftlichen Aufwertung des Barfußlaufens (teilweise von der Werbung schon vorweggenommen) als „Barefoot Luxury“: „Seht her, ich kann auf meiner Arbeitsstelle so rumlaufen, als wäre ich zu Hause und ich kann mir gutes Wohnumfeld leisten, wo die Straßen und Parks so sauber sind, dass ich mich auch da bewegen kann, als wäre ich zu Hause“.

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NEIN!!! Es darf nicht in die Richtung „als Barfüßer*in bin ich was besseres“ gehen. Dieses „Barefoot Luxury“ halte ich für einen zutiefst merkwürdigen Trend (da wird das Barfußgehen letztlich irgendwie als Modegag gekapert), so wie ich „shabby chic“ auch eigentlich menschenverachtend gegenüber Leuten, die sich wirklich nicht leisten können, kaputte Sachen zu ersetzen oder zu reparieren, finde. Bitte keine kulturelle Gentrifizierung der Barfußlaufens. Da bin ich doch lieber der barfüßige Bürgerschreck incl. gelegentlicher gesellschaftlicher Nachteile. Bitte, warum kann es nicht einfach scheißegal sein?

[Nachtrag]
hab gerade gelernt, daß „Barefoot Luxury“ eine Hotelkette ist, die nicht billig aussieht, und daß „shabby chic“ sich auf einen Einrichtungsstil bezieht und weniger nur auf Klamotten. Ich glaube aber, daß meine Kritik dennoch gut rüberkommt, daß Barfußlaufen bitte kein millionenschwer vermarktbarer Trend zu werden braucht, und daß ich es eben, egal wie diese Mode heißt, menschenverachtend finde, mit dem Stil von Menschen, die ihre Klamotten tragen müssen, bis sie zerfallen, rumzukokettieren und auch da noch einen (teuren) Modetrend und einen großen Markt draus zu machen.

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Es ist unwahrscheinlich, dass es ohne Übertreibung geht. Oft wird etwas zum Hype, bevor es wieder ganz verschwindet. Manchmal findet es einen Platz irgendwo, um zu bleiben.

Oder es ist von Anfang an eine Ausnahme und bleibt es auch.

Menschen sind so.

Ich denke eigentlich nicht, dass es der DACH-Region so besondere Unterschiede gibt (die Schweiz kenne ich zu wenig). In Deutschland gibt es vielleicht größere regionale Unterschiede als im relativ überschaubaren Österreich, aber etwa in Leipzig, Jena oder Weimar habe ich im Schnitt mehr Barfüßer gesehen als in Österreich. Auch etwa in Wien ist das nicht eben üblich (wird im Allgemeinen aber toleriert); überhaupt ist Wien eine etwas kleidungsbewusstere Stadt als Frankfurt oder Berlin. Ein Frankfurter Freund von mir hat sich anlässlich eines Wien-Besuches über die vielen Wiener gewundert, die mit Anzug oder jedenfalls Sakko in den Cafés sitzen.

Neuseeland ist insgesamt noch einmal entspannter (Südafrika kenne ich nicht), vielleicht aus 3 Gründen: 1) natürlich das Klima, 2) die Barfuß-Tradition bei der angestammten (nichtwestlichen) Bevölkerung, 3) der kulturell egalitäre Hintergrund. Alle 3 Faktoren dürften tendenziell auch auf Südafrika zutreffen (der barfußfreundlichste Teil der USA dürfte Hawaii sein, das ich aber nur von einem Besuch kenne). In Europa haben die Sekundärfunktionen von Kleidung - als Standesausweis, Identitätsmerkmal, Zier - die Primärfunktionen stark überlagert, in NZ ist das deutlich anders. Dort kleidet man sich eher so, dass man gerade nicht friert, während man sich bei uns eher so kleidet, dass man gerade nicht schwitzt. In NZ wird auch wenig bis gar nicht geheizt, da ist man gut beraten, sich etwas abzuhärten (tendenziell ist das auch in England so, aber GB ist einfach noch viel stärker eine Klassengesellschaft, mit einer entsprechend anderen Rolle von Kleidung).

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Genau das ist der Gedanke, den ich vor ein paar Jahren mal blogseitig niedergeschrieben habe: Barfuß ist KEIN Trend! - lederfuesse.de
Ich wehre mich nämlich auch immer gegen das Wort „Trend“, weil es nach einer vorübergehenden Mode klingt, die irgendwann wieder abebbt. Mag sein, dass es so kommt (hoffentlich nicht), aber ich möchte keinem Trend folgen, sondern dem gesunden Menschenverstand und der hat mir (nach immerhin mehr als vier Jahrzehnten erst) aufgezeigt, dass es nicht bekömmlich für den gesamten menschlichen Körper ist, wenn man dauerhaft Schuhe trägt. Was nicht heißen soll, dass man nie welche tragen soll.

@LASSE vielen Dank für die Aufklärung, dieser Mann ist ganz offensichtlich ein sehr guter Mittelalter-Experte. Ich konnte tatsächlich einige Vorurteile überdenken, weil man es eben so beigebracht bekommen hat - genau wie das Schuhetragen…

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Richtig spannend zu sehen, was hier ergänzt und korrigiert wurde schon.

Was hier für die Steinigung einer Lehrperson reichen würde ist woanders ein akzeptiertes Training für die exakt gleiche Altersgruppe.

Auch gerade das Thema Heizung… Hier lieber ein bisschen zu warm und anderswo gerade noch so, dass man es schafft nicht zu schnattern.

Spannend auch die gegensätzlichen Informationen zur Entsorgung von Fäkalien in den großen Städten, vor der Erfindung der Kanalisation.

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Seit meiner Zeit in Neuseeland bin ich auch wenig- bis gar nicht Heizer. Kanada war das Gegenteil: ständige Extreme. Ist es draußen zu heiß, ist es drinnen zu kalt, und umgekehrt. Dort (jedenfalls in Ontario) ist auch so gut wie niemand barfuß. Überhaupt hat sich meine subjektive Wohlfühlzone seit NZ (wo ich ungefähr 2 Jahre war) um ca. 5 Grad nach unter verlagert. Ab etwa 12 Grad ist für mich jetzt Sommer, während mir Temperaturen über 30 Grad unangenehm sind. Ich habe auch gemerkt, dass Barfußgehen bei niedrigen Temperaturen abhärtet - ich bin so gut wie nie krank, was ich sehr zu schätzen weiß - und mag die klaren Kontraste im Frühjahr und Herbst (unter so 5 Grad ist für mich dennoch Schluss). Im Zweifel ziehe ich - wie die Kiwis - heute eher zu wenig an als zu viel (echte Wintermäntel besitze ich gar nicht mehr).

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Die Gewöhnung an niedrige Temperaturen, ohne dabei ständig heimlich Wärme zu erhoffen…

Kenne ich aus der Zeit, wo ich wirklich extrem viel Sport und Bewegung hatte, etwas… Aber grundsätzlich brauche ich Temperaturen oberhalb der 18 Grad, mit etwas Sonne, damit ich mich wirklich wohl fühle. Menschen, die bei 15 Grad in der Bude sitzen und keine Heizung brauchen, kann ich nicht wirklich verstehen.

Nach zwei Wochen camping ist es Zuhause zwar gefühlt viel zu warm, aber das gibt sich auch schnell wieder.

Wie kann man auf gute Art da etwas dauerhaft ändern?

Das frage ich mich auch immer wieder. Bei den Füßen hat es ja auch wunderbar und relativ schnell geklappt. Ab September 2016 habe ich angefangen, tägliche kurze Barfußspaziergänge zu machen und bereits nach wenigen Wochen war die Durchblutung und Isolierung (dickere Unterhaut!) so angepasst, dass ich seitdem nie wieder unangehm kalte Füße hatte. Kalt schon, aber eben nicht unangenehm. Den Unterschied „durfte“ ich noch wenige Male erfahren, wenn ich mit Fieber und Schüttelfrost eben doch dicke Socken anziehen musste.

Ich wüsste aber nicht, wie man dem Rest des Körpers diese Kältegewöhnung beibringen kann? Nur noch im T-Shirt rausgehen, um den Körper dran zu gewöhnen? Ich glaube, das funktioniert nicht.
Was gibt es sonst? Wechselduschen? Eisbaden? Wim Hof Atmung? Vielleicht, klingt aber irgendwie abschreckender als einfach keine Schuhe zu tragen.
Ich brauch’s obenrum auch eher warm. Daunenjacke und Wollmütze von September bis April und im Sommer fühle ich mich zwischen 30⁰ und 35⁰ am wohlsten. Da bleibe ich die Frostbeule, die ich schon immer war. :cold_face:
Immerhin bleiben die Füße jetzt immer draußen an der Luft. Selbst im Bett sind mindestens die Sohlen mehr draußen als unter der Decke. Sonst ist mir zu warm. :fire:

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